Ich hab genug von mir!
Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun, in Erwartung anderer Ergebnisse. Wenn du etwas in deinem Leben verändern möchtest, dann ist es grundsätzlich von Vorteil, dass du auch damit anfängst, etwas zu tun, statt nur darauf zu warten, dass etwas passiert. Ich erzähle dir heute ein bisschen was darüber, wie ich nach vielen Jahren hausgemachtem „Wahnsinn“ dann doch endlich auf die glorreiche Idee gekommen bin, dass in meinem Leben Zeit für Veränderung ist und wie ich damit angefangen habe, „mich neu zu machen“.
Niemand mag Jammerlappen
Ich heule. Weil das Leben so gemein zu mir ist. Weil ich immer die Leidtragende bin. Weil ich immer Rücksicht auf andere nehme und dafür dann doch letztendlich die Gelackmeierte bin. Nie schaffe ich es, dass wirklich alle zufrieden sind. Nichts was ich tue ist irgendwann einmal genug. Immer ist da irgendetwas, das fehlt, das nicht genug ist. Ich bin nicht gut genug. Ich kann nichts. Ich schaffe nichts. Ich armes, armes Opfer.
Es ist Frühling 2018. Mein Freund und ich streiten wie üblich über die immer gleichen Themen. Der Gesprächsverlauf lässt sich eigentlich schon drehbuchmäßig voraus sagen. Ein Wort ergibt das andere. Und in meinem Kopf die immer gleichen Gedanken, die in mir die immer gleichen Gefühle von „nicht genügen“ hervorrufen, die wiederum in den immer gleichen, dysfunktionalen Verhaltensmustern enden. Der nächste Streit ist vorprogrammiert, automatisiert. Determiniert.
Die kleine innere Stimme hat etwas zu melden.
Aber irgendetwas ist anders an diesem Tag. Irgendeine kleine Stimme in mir flüstert: Es reicht, Pia. Es ist genug. Denk doch mal nach. Wie kann es sein, dass in all deinen Beziehungen, ob Freundschaften, Partnerschaften, kollegiale Beziehungen, immer und immer wieder das gleiche passiert? Es ist unmöglich, dass daran einzig und allein „die anderen“ Schuld sind. Das wissen wir doch beide, flüstert die kleine Stimme. Und ich schluchze in mich hinein, immer noch gefangen in meiner viel zu lange heiß geliebten, kuscheligen Opfer-Rolle und denke mir „Ach, halt doch die Klappe“. Aus irgendeinem Grund schweigt die kleine Stimme jedoch an diesem Tag nicht. Sie macht weiter, redet auf mich ein, bis mir der Kopf raucht und die Wangen glühen. Bis ich in völliger Verzweiflung den wilden Entschluss fasse, alle mir zur Verfügung stehenden Kräfte zu mobilisieren und ganz grundsätzlich etwas in meinem Leben zu verändern. Weil ich an diesem Tag erkenne, dass die Stimme recht hat. Weil ich an diesem Tag verstehe, was die kleine Stimme mir sagen möchte. Es sind nicht immer die anderen. Im Grunde sind es nie die anderen. Es sind nie die Umstände. Wir sind es immer selbst. Ganz allein.
Alles eine Frage der Perspektive
Wie wir unsere Realität wahrnehmen ist tatsächlich einzig und allein unsere eigene Entscheidung. Natürlich nicht so bewusst gewählt, wie wir die Entscheidung treffen, ob wir lieber die Kugel Schokoladeneis oder doch das Zitroneneis haben möchten. Doch unsere Realität formt sich letztendlich aus unserer eigenen Perspektive auf die Welt, auf die Menschen, auf die Erfahrungen, die wir sammeln. Wir selbst bewerten anhand früherer Erlebnisse, anhand fixer Ideen über uns selbst und andere, jede Situation, in der wir uns befinden, auf unsere ganz eigene, individuelle Art und Weise. Durch diese Bewertung entstehen in uns Gefühle, die wiederum unser Verhalten steuern. Ein kleines Beispiel dazu. Stell dir eine Blume auf einer Wiese vor. Ein Mensch sieht diese Blume und denkt sich: „Wow, wie schön, ein Zeichen für Frühling, das find ich aber toll!“ Ein anderer Mensch sieht exakt die gleiche Blume und denkt sich: „Oh nein, die ersten Frühblüher sind da, na großartig, dann geht’s ja bald los mit meinen Allergien, was ein Mist!“ Beide Menschen haben exakt die gleiche Blume gesehen, doch den einen macht ihr Anblick glücklich und den anderen verärgert die Blume, ja, sie bereitet ihm sogar gesundheitliche Sorgen. Dabei ist es doch einfach nur eine Blume. Du siehst, worauf ich hinaus möchte? Nicht das, was IST, sorgt dafür, dass wir uns fühlen, wie wir uns nun mal fühlen, dass wir handeln, wie wir handeln. Sondern das, was wir selbst INTERPRETIEREN, was wir denken, erzeugt in uns Gefühle und Verhaltensweisen, die sich wiederum auf unser Umfeld auswirken und so weiter.
Schluss mit der Opfer-Rolle
Zurück zum eigentlichen Thema. Ich habe also im Frühling 2018 endlich mal dieser kleinen inneren Stimme zugehört, nicht nur das, nein, ich habe sie in diesem Frühling zum allerersten Mal in meinem Leben wirklich angehört und ernst genommen. Die kleine Stimme, die mir schon so oft versucht hatte zu sagen, dass ICH SELBST Auslöser für die vielen „Opfer-Momente“ in meinem Leben war. Das ICH SELBST es in der Hand habe, wie ich mich fühle, wie ich denke, wie ich handle. Nicht die anderen sind verantwortlich, für dass, was mir widerfährt, was mit mir passiert. Ich bin es. Ich war es immer schon. Hab’s nur nie so ganz geschnallt.
Dabei bin ich wirklich nicht auf den Kopf gefallen. Ich habe ein hervorragendes Abitur abgelegt, ein Bachelor-Studium in Regelstudienzeit mit sehr guter Abschlussnote absolviert. Bin sofort erfolgreich ins Berufsleben gestartet, habe viele – und mit viele meine ich WIRKLICH viele – weitere Ausbildungen absolviert. Natürlich alles mit Bestnoten. Klar. Pia macht das schon, die schafft das schon. Hat die immer schon. Voll schlau und so. Alle meine Qualifikationen und Ausbildungen ranken sich im weitesten Sinne um das Thema „Menschliche Psyche und Verhalten“. Ich arbeite als Therapeutin für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen, mein gesamter Berufsalltag besteht aus nichts anderem als Psychotherapie, Verhaltenstherapie, Beratungsgesprächen, Coaching, Kriseninterventionen und so weiter. Und dennoch habe ich es bis zum Frühling 2018 nicht geschafft, irgendeine der schlauen Interventionen, hilfreichen Strategien, tollen Gedankenspielen, zu denen ich meinen Klienten rate, auch nur ansatzweise in meine eigene Erlebenswelt zu integrieren. Keinen einzigen meiner großartigen Ratschläge habe ich bis dahin selbst beherzigt. Doch wehe, wenn sie losgelassen.
Nicht nur labern, sondern machen
Als ich endlich begriffen hatte, dass ich selbst es in der Hand habe, dass ich der Regisseur meines Lebens-Drehbuchs bin, war ich Feuer und Flamme. Ich verschlang einen Podcast nach dem anderen zu Themen wie Persönlichkeitsentwicklung oder Beziehungsgestaltung. Ich begann damit, das Wissen in meinem Kopf mit dem zu verknüpfen, was mich im Alltag immer wieder straucheln ließ. Ich setzte um, was ich jahrelang nur gelernt, gelehrt oder empfohlen hatte. Und ich will dir verraten, warum. Ich war endlich bereit, mein Leben zu ändern und mein Ändern zu leben. Aus Liebe. Rückblickend gibt es keinen anderen Grund, keinen anderen Antrieb, kein anderes Motiv als pure Liebe, die mich dazu getrieben hat, aufzustehen und loszugehen statt weiter in der Ecke zu hocken und mich selbst zu bedauern. Ich will, dass alles anders wird, dass ich anders werde, weil ich meinen Partner über alles liebe. Ich will diese Liebe bewahren, sie ist zu kostbar, um sie einfach wegzuschleudern, wegzuschmeißen, weil ich meine Opfer-Rolle so bequem finde. Und ich will, dass alles anders wird, dass ich anders werde, weil ich mich liebe. Nach so vielen Jahren kann ich im Frühling 2018 endlich sagen, dass ich bei mir angekommen bin. Denn wer ist denn letztendlich diese kleine innere Stimme, die mir zuflüstert, dass wir endlich etwas ändern müssen? Das bin doch schließlich auch ich. Und wenn ich mir selbst etwas zu sagen habe, dann sollte ich mir verdammt nochmal auch endlich zuhören. Wird wohl wichtig sein.
Die Liebe leben und das Leben lieben
Ich liebe mich, ich liebe mein Leben, ich liebe meine Familie, ich liebe meine Freunde, ich liebe meinen Partner, ich liebe mit jeder einzelnen Faser meines Herzens. Liebe, Liebe, Liebe. Ein neuer Weg war aufgeploppt an meinem kleinen, bis dato doch sehr beschränkten Horizont. Und ich beschritt ihn, frohen Mutes, voller Zuversicht. Ich sammelte Achtsamkeit, Dankbarkeit, Selbstliebe. Ich stolperte über alte Glaubenssätze, fiel hin, verletzte mich, stand auf und machte weiter. Und ich entwickelte mich, ich veränderte mich, ich lernte neue Gedanken zu denken, neue Gefühle zu fühlen und Dinge zu tun, die ich bis dahin noch nie getan hatte. Und mit jeder kleinen Entwicklung von mir, entstand auch im Außen Neues, mit jeder Veränderung meiner Selbst konnten sich auch meine Beziehungen verändern, konnten sich die Menschen in meinem Leben auch anders verhalten. Klar, es war nicht sofort immer alles rosarot, das wäre jetzt gelogen. Doch es wurde irgendwie gut, besser, mein Leben hatte eine Dynamik angenommen, die ich mochte, die ich endlich mal geschehen lassen konnte und auch wollte. Und dann kam der Herbst. Und dann kam der Krebs.
…Fortsetzung folgt…
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